Dr. V. P. Ljubin (INION RAN)
Aus dem Russischen von Iris Lenzen
(Ausfuehrlicher in: УOsteuropaФ, Stuttgart-Aaachen, 2002, N 2. Ц S.180-200)
Im August 2001 feierte man in Russland ziemlich bescheiden den zehnjaehrigen Jahrestag des gescheiterten Putschversuches und des Sieges der antikommunistischen Kraefte. Der bekannte politische Kommentator, der ehemalige Botschafter Russlands in Israel, Alexander Bowin, erinnerte sich in diesen Tagen: "Vor zehn Jahren, am 19. August 1991, wurde in der Sowjetunion ein Staatsstreich versucht. Eine Gruppe fuehrender Funktionдre aus Staat, Armee und KGB ... hatte das sogenannte Staatskomitee fuer Ausnahmezustand gebildet und die Macht im Lande uebernommen. Praesident Mikhail Gorbatschow wurde fuer krank und handlungsunfaehig erklaert und an seinem Urlaubsort auf der Krim unter Hausarrest gestellt. Der ganze Spuk dauerte nur drei Tage, doch er leitete eine neue Epoche in der Geschichte Russlands ein. ... Der Versuch, die Gorbatschowsche Perestroika in den Rueckwaertsgang zu schalten, beschleunigte und intensivierte objektiv betrachtet gerade die Prozesse, die die Putschisten abwenden, abbremsen und ins soziale und politische Unterbewusstsein verdraengen wollten." (Bowin,A. Voltaire hatte recht - zehn Jahre nach dem Augustputsch. In: Vostok Newsletter. - Berlin, 2001, N 6, 23 August. - P.1).
Die Ergebnisse der Politik, die in Russland nach dem Umsturz 1991 durchgefuehrt wurde, erwiesen sich als weit entfernt von den Erwartungen der Gesellschaft. Die Fehler waren nicht selten dadurch begruendet, dass die Personen, die an der Spitze des Staates standen, nicht die Besonderheiten der politischen Kultur des Landes beachteten, wie sie sich im Verlaufe von Jahrhunderten entwickelt hatte. Die russische Gesellschaft der neunziger Jahre erlebte solche Erschuetterungen (ich nenne jetzt die Hauptpunkte) wie das Ende der Periode der Gorbatschowschen Perestrojka und den Sieg der antikommunistischen Kraefte im August 1991 sowie den voelligen Zusammenbruch der Sowjetunion im Dezember 1991, den Beginn der Wirtschaftsreformen und ein bisher nicht erlebter Absturz des Lebensstandards des grцяten Teiles der Menschen vor dem Hintergrund der raschen Bereicherung einer schmale Schicht von Дneuen RussenУ, das Anwachsen separatistischer Tendenzen innerhalb Ruяlands, der Machtkampf Prдsident Jelzins gegen den Obersten Sowjet, der mit der bewaffneten Liquidierung des letzteren im Oktober 1993 endete, die Annahme einer neuen Verfassung und der Sieg bei den ersten Wahlen zur Staatsduma der Nationalisten mit Schirinowskij an der Spitze im Dezember des gleichen Jahres, der erste Tschetschenien Krieg von 1994 bis 1996, die Wiederwahl Jelzins bei den Wahlen 1996 trotz nicht geringer Unterstuetzung in der Bevoelkerung seines Hauptopponenten Zjuganovs, des Fuehrers der Kommunistischen Partei, die die Parlamentswahlen 1995 gewonnen hat, eine tiefgehende Finanzkrise 1998, und der Beginn des neuen Tschetschenien Krieges im August 1999.
Die Frage der Wahl des Weges zur Demokratie oder zum Autoritarismus blieb in der gesamten Zeit aktuell fuer Russland, das in einer Situation der stabilen Instabilitaet lebte. Bei dieser Wahl zeichneten sich die Wirkungen der tiefgehenden Tendenzen des russischen oeffentlichen Bewusstseins ab und der frueheren nationalen Traditionen. ДDas Problem ist, dass wir nicht auf die Freiheit vorbereitet waren, - schreibt derselbe Alexandr Bowin und setzt fort, - Thomas Mann sagte einmal sinngemaess, Demokratie sei die Bereitschaft des Geistes zur Politik. Der ДGeistУ der ueberwiegenden Mehrheit des neuen Russlands ist jedoch nicht bereit fuer die Politik. Daher ist unsere Demokratie fuer die ueberlebende Nomenklatura, das Heer der Beamten und die ungebetenen Eliten und Neureichen, die bei uns ДOligarchenУ genannt werden. Es ist eine Art Public Relations-Demokratie, quasi ein Parasit der niedrigen politischen Kultur der Bevoelkerung. Aber: diese Demokratie ist besser als gar keine. Die wichtigste Leistung des Jelzinschen Jahrzehnt besteht darin, dass ДZar BorisУ das demokratische Erbe Gorbatschows bewahrt hatУ. ДIch bin davon ueberzeugt, dass Russland den demokratischen Weg nicht verlassen wirdУ, schliesst Bowin (Ibid., S.2), und ich stimme diesen Worten zu.
Das Paenomen Putin, sein Sieg und der Sieg seiner Anhaenger bei den Parlamentswahlen im Jahre 1999 und bei den Praesidentschaftswahlen 2000 lassen sich meiner Ansicht nach damit erklaeren, dass auch der neue russische Prдsident und seine Anhaenger aus einer schnell gebildeten Partei ДEdinstvoУ (Einheit) als Gegengewicht zu Jelzin und seiner Umgebung ansahen, dass der Erhalt und die Konsolidierung der Macht ungleich besser zu realisieren sind, wenn man die Traditionen und die Kultur des Volkes beruecksichtigt. Nicht zufaellig wurden in der Vorwahlzeit die Staebe der Partei ДEdinstvoУ und des kuenftigen Praesidenten selbst mit qualifizierten Politologen besetzt.
Die grundlegenden Werte der politischen Kultur haben eine erstrangige Bedeutung fuer die Lebensfaehigkeit und den Erhalt der Uebernahme eines jeglichen gesellschaftlich-politischen Systems. Die politische Kultur kann man nur dann richtig verstehen, wenn man sie als unloesbaren Teil der allgemeinen nationalen Kultur versteht. Die russische Kultur ist die Nachfolgerin der byzantischen Kultur; das historische Russland schlug den Weg von der christianisierten Kiewer Rus ein ueber das Moskowitische Reich zum Petersburger Imperium, dem die kommunistische und die postkommunistische Periode folgten. Ueber jede dieser Periode gibt es viel zu sagen . Aber aufgrund der beschraenkten Zeit muя ich mich mit einigen allgemeinen Bemerkungen hinsichtlich der Geschichte der Bildung der politischen Kultur Russlands begnuegen und mehr Zeit den gegenwaertigen Veraenderungen widmen und ueber den Zustand der Zivilgesellschaft sprechen.
Jede folgende Etappe der historischen Entwicklung des Landes verwarf die vorhergehende. Es wurden die Formen veraendert, die fuer das gesellschaftliche Leben und die staatliche Organisation galten. Das oeffentliche Leben in Russland wurde durch die Existenz verschiedener Subkulturen charakterisiert mit voellig unterschiedlichen und mitunter auch gegensaetzlichen Wertvorstellungen. Im Verlauf der letzten drei Jahrhunderte bekaempften sich in Russland staendig die slawophil und westlich ausgerichteten Subkulturen, radikale und patriarchalisch-konservative, anarchische und etatistische Subkulturen. Heute stehen sich reformerisch ausgerichtete, demokratische und konservative Subkulturen gegenueber.
Die Veraenderung ging einher mit der Uebernahme des Vorhergegangenen und die politische Kultur war durch bestimmte, ihr innewohnenden Konstanten gekennzeichnet. Dazu gehoeren der autoritaere Charakter der Macht und die Vorrangstellung des Staates vor der Zivilgesellschaft. Die demokratischen Rechte und die Freiheit wurden von der Gesellschaft nicht erkaempft, sondern aufgrund der Gnade des Monarchen gewaehrt. Daher auch die grosse politische Rolle der Buerokratie, des Paternalismus und des Klientelismus, eine weit verbreitete politische Traegheit und Unbeweglichkeit, das Fehlen zivilisierter Wechselbeziehungen zwischen ДobenУ und ДuntenУ und Rechtsnihilismus auf beiden Seiten. Etatismus, die Allmacht des Staates und die Schwaeche der buergerlichen Gesellschaft, die nur schwach ausgepraegte Faehigkeit der Bevoelkerung zur Selbstorganisation. Hierzu kann man noch zahlreiche Faktoren aufzaehlen, ueber die z. B. mein Kollege Professor Simon, ein guter Kenner der Geschichte Russlands und seiner politischen Kultur, geschrieben hat.
Er weist auf die geographischen Bedingungen hin und auf das besondere Rechtsbewusstsein, das weniger auf festgelegten formalen Rechten und Vorschriften beruht, sondern von einer Дhoeheren MachtУ Gerechtigkeit erwartet. Das heisst, dass man sich nicht auf sein (formales) Recht beruft, und das moeglicherweise auch gegen den Staat, sondern dass man immer von Personen und Beziehungsgeflechten abhaengig ist. Das Recht als solches - sowohl das eigene wie auch das der anderen - wird nicht geachtet.
Ich moechte den Autor und Sie alle an seine Definition der politischen Kultur unseres Landes erinnern: "Die russische politische Kultur ist in Vergangenheit und Gegenwart gepraegt durch einen Mangel an Reprozitaet zwischen Staatsmacht und Machtunterworfenen, zwischen Gemeinschaft und Individuum, zwischen Rechten und Pflichten, zwischen oben und unten. Vorrang haben - jedenfalls dem Anspruch nach - stets die Macht, die Gemeinschaft und die Pflichten gegenueber den Machtunterworfenen, dem Individuum und seine Rechten. ... Das Recht hat also im Bewusstsein nur eine begrenzte Reichweite, es ist Ausfluss der Politik und der Macht. Man beugt sich dem Gesetz, soweit es opportun ist. Begrenzte Reichweite bedeutet auch, dass Menschen nicht an die eigenen Rechte und deren Durchsetzbarkeit glauben, insbesondere dann nicht, wenn sie sich gegen den Staat richten. Hier besteht ein unmittelbarer Zusammenhang: wer nicht an seine eigenen Rechte glaubt, unterwirft sich auch nicht dem Recht" (Simon, G. Russland - eine Kultur am Rande Europas. In: Russland in Europa? Innere Entwicklungen und die internationalen Beziehungen - heute. Kцln, 2000. - P. 14-15).
Die politische Kultur des postkommunistischen Russland ist nicht zuletzt bestimmt durch die soziale Basis, die 1991 von dem Regime geschaffen wurde. Die waehrend der Zeit der Perestrojka begonnene Revolution wurde nur teilweise durchgefuehrt, als Ergebnis einer Stuetze des gegenwaertigen Regimes erweist sich die Nomenklatur, die sich umgebildet hat, der prowestliche Teil der Intelligenz, die Vertreter der Handelsbourgeoisie der ersten Generation. In Wirklichkeit ist diese soziale Basis sehr eng, daher auch die Versuche der Macht, eine groessere Unterstuetzung zu suchen und Organisationen der zivilen Gesellschaft heranzuziehen, um sich auf sie zu stuetzen.
In den letzten Jahrzehnten vollzog sich eine Reformierung der oberen Schichten der Macht in Russland. Es wurde eine neue Verfassung angenommen, es wurden regelmaessig Wahlen durchgefuehrt. Entsprechend der Verfassung Russlands ist die Russische Foederation eine praesidentielle Republik. Der Praesident konzentriert in seinen Haenden so viel Macht, dass es an die Traditionen der russischen Selbstherrschaft erinnert. Das Parlament besteht aus einer Unteren Kammer - der Staatsduma - und einer Oberen Kammer - dem Foederationsrat. Aber das Parlament spielt nur eine untergeordnete Rolle. Das ganze Land ist in 89 Regionen aufgeteilt. Die Groesse des Territoriums, oekonomische, nationale und konfessionelle Unterschiede erschweren die Verwaltung des Landes. In den 90er Jahren traten in der Russischen Fцderation staendig zentrifugale, separatistische Tendenzen auf. Das bekannteste Beispiel ist Tschetschenien, ein weniger bekanntes ist Tatarstan, aber hier gelang es den Moskauer und den oertlichen Machthabern, sich auf friedliche Weise zu einigen und den Konflikt zu ueberwinden.
Als Putin an die Macht kam, mit dem Ziel, die Verwaltbarkeit zu erhoehen, fuehrte er eine administrative Reform durch. Das Land wurde in sieben grosse Regionen eingeteilt. An die Spitze einer jeden Region wurden Leute gestellt, die dem Praesidenten ergeben waren. Das waren in erster Linie hochrangige Armeeangehцrige und Angehцrige des FSB, des frueheren KGB. Auf diese Weise wurde klar, wen Putin bevorzugt, der frueher selbst ein Offizier des KGB war, und der bei Jelzin den Posten des Chefs des Foederalen Sicherheitsdienstes innehatte. ДAlles das zeigt, dass der Ton in der Gesellschaft von den ueberkommenen Strukturen: naemlich von der Armee, vom Innenministerium, von der Staatsanwaltschaft, von dem Foederalen Sicherheitsdienst angeben wird, - schreibt der Soziologe Lev Gudkov. - Die Weltanschauung dieser Militaerspitze ist, wenn schon nicht beispielhaft, so hat sie doch Autoritaet und ist weit verbreitet. Bei der Macht befindet sich ihr gemeinsamer Praesident, farblose Kabinettsbeamte ohne Selbststaendigkeit und Individualitaet, ein Moltschalin in der Rolle der nationalen FuehrerУ.
Die Veraenderungen an der Staatsspitze waren nicht begleitet von tiefergehenden Veraenderungen in der oertlichen Selbstverwaltung. Ihnen fehlt eine durchgreifende Reorganisation. In Wirklichkeit herrscht an diesen Stellen der Oberbuergermeister oder andere fuehrende Persцnlichkeiten, die die Meinung der Buerger und der Buergerinitiativen ignorieren, wenn diese in Widerspruch zu den Interessen der lokalen Machthaber stehen. Diese Macht selbst wird als Privileg angesehen, aufgrund dessen man ueber das Schicksal der in diesem Einflussbereich lebenden Menschen bestimmen kann. Das ruft nicht zufaellig Erinnerungen an das Leibeigenenrecht hervor, das in Russland erst 1861 abgeschafft wurde.
Die Praesidentschaft Putins ist die bisher deutlichste Verkцrperung des Дrussischen WegesУ, schreibt z.B. derselbe Gerhard Simon. - ДDieser Weg verlдuft sozusagen gleich weit entfernt vom kommunistischen Totalitarismus und vom westlichen Liberalismus. ... Die zentrale politische Forderung des Дrussischen WegesУ lautet: ДAlle Macht dem Kreml!У. ... Eine organisierte politische Opposition, die dem Kreml-Chef im Zentrum oder in den Regionen als Alternative entgegentreten koennte, gibt es nicht. ... Putins Politik ist Дeine Kombination von politischer Stabilitaet, wirtschaftpolitischer Stagnation und Rueckschritten in den Bereichen Demokratisierung, Rechtsstaat und MenschenrechteУ, schliesst er richtig (Simon, G. Putin als Verkцrperung des Дrussischen WegesУ. In: H. Adomeit, R.Gцtz, H.Timmermann (Hg.). Ein Jahr Praesidentschaft Putin. Berlin, 2001. - S.9-11).
Der Zerfall der Sowjetunion, bei dem Russland und die Russen die fuehrende Rolle spielten, die die nationale Erniedrigung Russlands hinnahmen, faktisch der Sieg des Westens im Kalten Krieg, bedingte den Aufschwung der nationalistisch gesinnten Krдfte. In diesem Zusammenhang wurde die Idee der besonderen historischen Mission Russlands und seines Volkes belebt (frueher bestanden diese Vorstellungen in der Konzeption ДMoskau - Drittes RomУ und in der Ideologie der Dritten Internationalen). Man darf nicht vergessen, dass etwa 25 Millionen Russen unerwartet fuer sich selbst Auslaender in den ehemaligen Sowjetrepubliken geworden sind, und dieser Faktor ist fuer die russische Politik auch nicht unwichtig. Die Bevoelkerung ist mьde von mehr als zehnjaehrigen, nicht immer erfolgreichen postkommunistischen Reformversuchen, und zeigt ein deutliches Streben nach der festen Hand, die gegen die verbreitete Kriminalitaet erfolgreich wirken kцnnte. Und nach der Jelzin Aera und besonders nach den terroristischen Anschlaegen in Moskau und anderen russischen Staedten im Jahre 1999 wurde klar, dass die autoritaere Praesidialherrschaft breite Unterstuetzung finden kann: Drei Viertel der Bevoelkerung war der Meinung, Russland brauchte vor allem einen starken Fuehrer. Die gleichen 75% bis 80% waren bereit, demokratische Freiheiten fuer das Schaffen von Ordnung zu opfern (VCIOM). Das waren meistens Putin Waehler waehrend der Praesidenten-Wahl im Jahr 2000. Und nach neuesten Umfragen im Januar 2002 bleibt Putin mit seinem mehr autoritaeren als demokratischen Regierungsstil der erste Politiker auf der russischen politischen Buehne (den zweiten Platz nimmt Moskauer Buergermeister Luschkow ein, der aber rund zehn Mal weniger Unterstuetzer hat).
All dies zeigt nochmals, wie schwer es ist, das autoritaere Erbe in der politischen Kultur Russlands zu ueberwinden. Vielleicht nicht zufaellig publizierte der mailaendische ДCorriere della seraУ am Jubilaeumtag, dem 21.August 2001, einen Artikel, in dem er sich ueber einen neuen Personenkult von Putin lustig macht. Vor kurzem, am 27. Dezember, hat auch der Moskauer Korrespondent der Wochenzeitung ДDie ZeitУ, Michael Thuman, einige interessante Materialien zu diesem Thema hinzugefuegt. Nach den Ereignissen des 11. September festigte sich Putins aussenpolitische Position und der Personenkult im innern. Thuman vergleicht Gorbatschow und Putin: ДDer Unterschied faellt sofort auf. Im Gegensatz zu Gorbatschow, der sich auf den Westen zubewegte, ist in den vergangenen Monaten die Welt Russland und seinem Praesidenten naeher gerueckt. Die grossen Themen seit dem 11. September sind Putinismus pur: der Kampf gegen den Terror, die Bedrohung durch islamistische Bewegungen, die Staehlung von Staat und Gesellschaft durch Polizei, Geheimdienst und Antiterrorgesetze, der Feldzug gegen die Taliban und die Stabilisierung der morschen zentralasiatischen Regime. Putin predigt all das, seitdem er 1999 Bomber und Panzer an den Kaukasus schickte, um Tschetschenien zurueckzuerobern. Das neue Denken im Westen scheint auf verblueffende Weise Russlands Warnungen zu beherzigenУ. (ДDie ZeitУ, Hamburg, Nr 1, 27 Dezember 2001. - S.5).
Die lebendigen byzantinischen Traditionen in der politischen Kultur hemmen ernsthaft die Demokratisierung des Lebens der gegenwдrtigen russischen Gesellschaft. Hiervon ruehren auch die Schwierigkeiten beim Prozess ihrer Transformation, der Umwandlung der frueheren Kultur mit ihren bestaendigen Stereotypen in eine neue demokratische Kultur und ebenso die bis heute wenig erfolgreichen Versuche einer Belebung der Initiativen von unten, die Formierung einer handlungsfaehigen Zivilgesellschaft im heutigen Russland. Die historische Erfahrung zeigt, dass, wenn diese Reformen nur von oben durchgefuehrt und nicht von den breiten Massen unterstuetzt werden, deren Ergebnisse nicht von Dauer sein.
Die Versuche in den 90er Jahren, ein handlungsfaehiges Parteiensystem zu begruenden, brachten nicht die erwarteten Ergebnisse. Das demokratische Prinzip, durch Wahlen Veraenderungen herbeizufuehren, wirkt nur schwach, weil die Machhaber dieses Prinzip nicht unterstuetzten und oft der Gruendung von Parteien Hindernisse in den Weg legten. Die bestehenden Parteien sind schwach und nicht in der Gesellschaft verwurzelt, haeufig sind sie nur Ausdruck des Willens ihrer machtliebenden Fuehrer. In allen Bereichen der Macht sind Korruptionsfaelle verbreitet. Daher auch die politische Apathie der Bevoelkerung und die geringe Wahlbeteiligung.
Trotz allem fuehrt die Hoffnung auf eine positive Veraenderung zum Entstehen einer initiativen Zivilgesellschaft. Am 13. Juni 2001 konnte ich an einem ДRunden TischУ im Moskauer ДPraesident HotelУ teilnehmen, das Thema war ДDie Macht und die Zivilgesellschaft im heutigen Russland: Perspektiven der ZusammenarbeitУ. (Mein ausfuehrlicher Bericht ueber dieses Treffen wurde Ende Juni in Englischer Sprache im Internet publiziert). Die Besonderheit dieser Diskussion bestand darin, dass sie sofort nach dem Treffen im Kreml am nationalen Feiertag am 12. Juni stattfand, an dem Praesident Putin mit NGO Vertretern zusammentraf. Viele dieser Vertreter nahmen auch an diesem ДRunden TischУ teil. Wie man bei dieser Versammlung feststellen konnte, existieren praktisch in allen Teilen des Landes NGOТs, die eine wichtige Rolle bei der sozialen Adaption der Bevoelkerung an die neuen Bedingungen spielen.
Die Repraesentanten der NGOТs erklaerten, dass im Land 300.000 solcher Organisationen existieren. Sie haben eine Million Arbeitsplaetze geschaffen und die bei ihnen angestellten Leute erhalten regelmaessig ihre Bezahlung. Es handelt sich in erster Linie um die Gesellschaft der Invaliden, die Gesellschaft der kinderreichen Muetter, die Gesellschaft der alleinerziehenden Muetter und andere, deren Mitglieder sich vor allem selbst Arbeitsplaetze schaffen. Der oekonomische Umfang ihrer Taetigkeit wird auf Milliarden Dollar pro Jahr geschaetzt. Die NGO sind eine betraechtliche wirtschaftliche Kraft geworden und erweisen Dienste fuer 20 Millionen Kunden. Diese NGOТs bestehen aus zwei Generationen: eine begann ihre Taetigkeit noch in der Breschnew Zeit, die andere, die etwa zwei Drittel der NGOТs umfasst, begann ihre Arbeit in der postkommunistischen Aera.
Die Vertreterin der ersten Welle, Ljudmila Alexeeva, Leiterin der Moskauer ДHelsinki GruppeУ, unterstrich, dass diese Organisation, die vor kurzem ihr 25-jaehriges Bestehen gefeiert hat, zum Hauptziel die Verteidigung der Menschenrechte hat. Alexeeva gab eine positive Anwort auf die Frage, ob es in Russland eine Zivilgesellschaft gaebe. Ihrer Meinung nach gibt es folgende Komponenten einer solchen Gesellschaft wie, erstens: politische Parteien, zweitens: freie Medien, drittens: privates Business und viertens: unabhaengige zivilgesellschaftliche Organisationen. Aber die Verbindungen zwischen diesen einzelnen Organisationen sind noch schwach entwickelt.
Nach diesem ДRunden TischУ hat es eine gesamtnationale Diskussion ueber die Rolle der NGO und ihre gemeinsame Arbeit mit der Macht angefangen. Was die moegliche Zusammenarbeit der NGO mit der staatlichen Macht anbelangt, gab es eine gespaltene Beziehung. Auf der einen Seite begruessen die NGOТs, dass die Staatsmacht auf sie aufmerksam wird, auf der anderen Seite gingen sie von ihren in der Vergangenheit gesammelten Erfahrungen aus, wonach sie sich dieser Zusammenarbeit gegenueber vorsichtig verhalten muessen und ihre Unabhaengigkeit nicht verlieren duerfen. Trotz aller Zweifel hat die Mehrheit der NGO-Fuehrer die Vorschlaege der Macht ueber die Zusammenarbeit gebilligt und an der Moskauer Gruendungstagung des ДBuergerforumsУ am 21-22. November teilgenommen. Was fuer eine Zukunft diese Organisation, die in ihrem Programmentwurf die Entwicklung der Buergergesellschaft und ihre Zusammenwirkung mit der Staatsmacht bei der Reformierung des Landes erklaerte, haben kann, ist noch schwierig festzustellen. Es ist vielleicht kaum zu erwarten, dass das ДBuergerforumУ in der heutigen russischen Gesellschaft eine solche Rolle, wie es einmal in Polen frueher die ДSolidarnoszУ und nachher der ДRunde TischУ, spielen koennte. Und das Streben, eine vertikale Zivilgesellschaft von oben aufzubauen, sieht ziemlich absurd aus. Ich glaube, dass der Zivilgesellschaft dadurch ein Baerendienst erwiesen wird..
Waehrend dieser Sommer- und Herbst- Diskussion wurden einige interessante Daten und Meinungen dargestellt: zum Beispiel, die geringe zahlenmaessige Vertretung der Frauen in den Machtstrukturen. Es zeigt klar die ungenuegende Entwicklung der gegenwaertigen russischen Gesellschaft. Nach soziologischen Daten stellen die Frauen 53% der Bevoelkerung des Landes. 60% der Teilnehmer der letzten allrussischen Wahlen waren Frauen. Unter Personen mit Universitaetsabschluss sind 61% Frauen. Aber auf fuehrenden Posten im Lande befinden sich 62% Maenner. Die Frauenorganisationen sehen in allen diesen Fakten die patriarchalische Rueckstaendigkeit des Landes.
Die Politologen unterstrichen, daя waehrend der Durchfuehrung der Reformen der Staat unbedingt eine Unterstuetzung benoetigt und dass dafuer eine soziale Legitimation erforderlich sei. Dabei duerfe der Staat nicht die zivile Gesellschaft unterminieren. Innerhalb der NGOТs gibt es Konflikte zwischen elitaeren Stiftungen, die in irgendeinem Sinne mit dem Staat verbunden sind und denen, die sich kritisch zum Staat verhalten. Die NGOТs sind sehr labile Organisationen und es gibt nicht 300.000, sondern etwa 100.000, sagten die Politologen.
Also existieren die NGOТs im Lande als politisches Subjekt, das faehig ist, im Augenblick einen Einfluss auszuueben, der, obwohl er nicht so stark ist, wie es zu wuenschen wдre, dennoch einen spaerbaren Einfluss auf die Handlungen der Macht hat. Die naechste Zeit wird zeigen, ob es dieser Macht gelingen wird, die NGOТs bei der Reformierung des Landes einzusetzen und im Falle des Misserfolges einer solchen Zusammenarbeit nicht wieder in die alte Politik der Selbstherrschaft nach byzantinischem Muster zu verfallen (die Anzeichen dafuer sind unlaengst deutlich aufgetreten waehrend der Periode der Amtsfuehrung des neuen Praesidenten Putin). Diese Tendenzen zeigen sich an solchen Tatsachen wie an der aufgeregten Meinungsmache und der Abrechnung mit der oppositionellen Fernsehgesellschaft NTW im Fruehjahr 2001 und genauso in den letzten Tagen mit dem TV-6 Sender. Mit diesem Vorgehen wurde die Freiheit der Medien in Russland in Frage gestellt. Ein weiteres Zeichen ist das Ansteigen der vollstreckten Todesstrafen; seit August des letzten Jahres unterschrieb Praesident Putin nur 8 Gnadengesuche, waehrend im vorigen Jahr 12.500 Begnadigungen unterschrieben wurden. Das widerspricht Russlands Verpflichtung gegenueber dem Europarat die Todesstrafe abzuschaffen. In einem Ende August 2001 in der ДZeitУ publizierten Artikel teilte der Schriftsteller Anatolij Pristawkin, damals Leiter der Begnadigungskomission beim Praesidenten, mit, dass Дgenau ein Jahr vergangen (ist), seitdem Praesident Putin aufgehoert hat, Begnadigungserlasse zu unterschreibenУ. Die Nomenklatura Beamten haben Putin ueberzeugt, dass die meisten Inhaftierten, insgesamt fast eine Million Menschen, gefaehrliche Verbrecher sind. Aber es geht sehr haeufig um Menschen, die fuer das nackte Ueberleben, um sich und ihre Kinder zu ernaehren, gestohlen hatten. Noch ein negatives Beispiel des heutigen Lebens in Russland ist die Situation der Zivilbevoelkerung in Tschetschenien. Man hoerte immer wieder von Uebergriffen der Armee in Tschetschien gegen die Zivilbevoelkerung, was den Menschenrechten widerspricht.
Schliesslich fuehrt die Betrachtung des Problems der Evolution der politischen Kultur im gegenwaertigen Russland dazu, ob das Land in der Lage ist, ein demokratisches System zu errichten, oder ob es zu den autoritaer-monarchistischen und totalitaeren Traditionen zurueckkehrt. Demokratische Ideen haben in Russland keine tiefen Wurzeln. Einstweilen stuetzt sich die Demokratie in Russland auf die Uebernahme westlicher Ideen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Uebertragung westlicher Lebensformen auf russischen Boden nicht zu einer handlungsfaehigen Demokratie fuehrt und ausserdem wird dadurch die Demokratie zu einer Fiktion. Die Demokratie besteht nicht nur aus aeusserlichen Erscheinungen: regelmaessige Wahlen, Mehrparteiensystem, Parlamentarismus usw. Aehnliche Attribute haben auch viele Diktaturen, besonders in der Dritten Welt. Auf der anderen Seite garantiert die Entwicklung einer Marktwirtschaft und des Privateigentums durchaus nicht das Entstehen einer politischen Demokratie. Das Phaenomen des Kapitalismus unter den Bedingungen einer Diktatur ist wohl bekannt am Beispiel Lateinamerikas. Es scheint, dass das auch der gegenwaertige Praesident Putin versteht, in dem wie in ganzen Gesellschaft zwei Seelen kaempften: die Bestrebung zum Autoritarismus (die Erfahrung der Arbeit im KGB) und die Bestrebung zur Demokratie (die Erfahrung der liberalen wirtschaftlichen Taetigkeit als Stellvertreter des demokratischen Buergermeisters von Petersburg Sobtschak).
Die Frage der Wahl zwischen Autoritarismus und Demokratie war eine der zahlreichen Diskussionen in den 90er Jahren im ganzen Lande. Viele russische Intellektuelle sahen ein, dass die nicht adaequaten Handlungen der potentiellen Reformer sich in schreiendem Gegensatz zu den Traditionen der politischen Kultur befanden, und die nur dazu geeignet waren, eine kranke Gesellschaft noch kraenker zu machen. Die der russischen Kultur eigene staendige Spaltung der Gesellschaft stellt eine Bedrohung dar, naemlich die Umwandlung reformerischer Taetigkeit in ihr Gegenteil, die Quelle von Desorganisation. Die Reformer in Russland hatten es immer zu tun mit der historisch gewachsenen traditionellen Zivilisation, die sich orientiert an der Reproduktion der aus der Vergangenheit stammenden Werte, die als absolut und nicht veraenderbar angesehen werden. Fuer den Erfolg der Reform ist es erforderlich, die fuer das Land traditionelle Denkweise zu ueberwinden, die die Ausuebung der Macht ueber die Gesellschaft rechtfertigt.
In der Aussenpolitik findet eine derartige Ideologie im Bestreben, die Position Russlands als Grossmacht zu erhalten, ihren Ausdruck. Ebenfalls gibt es eine Konzeption der multipolaren Welt. Die Besiegelung des russisch-chinesischen Freundschaftsvertrages kann man als pragmatisches Resultat der Realisierung dieser Ideen ansehen. Hier ist eine Bestrebung zum Ausgleich der euroatlantischen und asiatischen Prioritaeten feststellbar. Ausserdem sieht der Kreml solche Handlungen der westlichen Maechte wie die Osterweiterung der NATO, die Handlungen der NATO gegen Jugoslawien, den Aufbau eines neuen Raketenabwehrsystems in den USA und deren praktischen Ausstieg aus dem ABM Vertrag als antirussische Aktionen an.
In der letzten Zeit entstand eine neue Etappe der Auseinandersetzung der Westler mit den Antiwestlern (im 19. Jahrhundert war das der Streit der Westler mit den Slawophilen). Diese Auseinandersetzung uebt Einfluss aus auf die Wahl der Prioritaeten in der Innen- und in der Aussenpolitik. Die Anhaenger des antiwestlichen Дbesonderen WegesУ Russlands (z. B. Alexander Dugin) versuchen, die Theorien ueber Eurasien zu beleben und sie in der politischen Praxis zu nutzen. In der politischen Arena werden diese Ansichten von den Nationalpatrioten und den Kommunisten unterstuetzt. Ihnen steht auch die den Praesidenten unterstuetzende Partei ДEdinstvoУ nahe, die die Mehrheit im Parlament hat, ungeachtet ihrer Bekenntnisse zu liberalen Werten. Innenpolitisch unterstuetzten diese Kraefte uneingeschraenkt Putin bei dessen Bestreben, auf militaerischem Wege den Knoten des tschetschenischen Separatismus zu durchschlagen. Sie traten ein fuer die siegreiche Beendigung der Дantiterroristischen OperationУ gegen tschetschenische Separatisten. Tatsaechlich ist der im Sommer 1999 begonnene Дzweite tschetschenische KriegУ (der Дerste tschetschenische KriegУ wurde von 1994 bis 1996 gefuehrt und rief neue Spaltungen in der russischen Gesellschaft hervor) weit von einem Ende entfernt.
Die heutigen Westler, liberale Politiker (wie z. B. Gajdar, Jawlinskij und andere) und gemeinsam mit ihnen die Mehrheit der traditionell prowestlich gesinnten russischen Intellektuellen sehen keine vernuenftigen Alternativen zu einer Europaeisierung und zu einer Annaeherung an den Westen. Sie unterstreichen, dass bei aller Notwendigkeit, gute Beziehungen zu den asiatischen Nachbarn aufrechtzuerhalten, nicht vergessen werden darf, dass die europaeische und euroatlantische Beziehung noch immer die wichtigste Richtung der Aussenpolitik Russlands bleibt. Gerade im Westen, an dem sich Russland orientieren will, fand und findet es durch seine reformerischen Anstrengungen das groesste Verstaendnis fuer seine Probleme der gegenwaertigen Modernisierung.
Der Streit darueber, welchen Weg ein sich reformierendes Russland gehen soll, geht weiter. Das Land treibt von einem Ufer zum anderen, und die in diesem Boot Sitzenden streiten ueber ihre Gegensaetze, und sie wissen nicht, an welchem Ufer das Boot anlegen soll. Die Ende der 80er Jahre und Anfang der 90er Jahre draengend entstandene Frage ueber die Wahl des Weges und der moeglichen Erfolge und Misserfolge in der gegenwaertigen Zeit bekommt eine immer pessimistischere Antwort. Dennoch, das ist nur ein Blick aus der gegenwaertigen Umbruchperiode. Die unklare Lage Russlands waehrend des Prozesses der Transformation erlaubt keine kategorische Schlussfolgerung. Eine solche Schlussfolgerung ist nur dann moeglich, wenn die transformatorische Fahrt beendet sein wird und die ueberwiegende Mehrheit der Menschen in Russland Boden unter den Fuessen gewinnt, und nicht nur die sich auf Kosten der nicht kontrollierbaren Umwandlung des Staatseigentums rasch bereichernden Дneuen RussenУ.
Ich fasse zusammen: die Ergebnisse der Politik, die in Russland nach der Wende 1991 durchgefuehrt wurde, erwies sich als weit entfernt von den Erwartungen der Gesellschaft. Fehler entstanden nicht selten dadurch, dass die Besonderheiten einer traditionellen politischen Kultur nicht beachtet wurden. Das Phaenomen Putin, in dem zwei Vorstellungen - Autoritarismus und Demokratie - im Widerstreit liegen, ist verbunden mit seiner Zugehoerigkeit zu dieser politischen Kultur. Die unbeendeten Reformen und ihre schwachen Ergebnisse rufen wachsenden Pessimismus hervor. Der Streit zwischen den Westlern und den Antiwestlern hat sich verschaerft. Die Hoffnung, auf dem demokratischen Weg weiterzugehen, laesst die Organisationen der Zivilgesellschaft wachsen.