Dr. Valerij P.Ljubin (INION RAN, Moskau)

Aus dem Russischen von Iris Lenzen

“Das Fenster zum Westen” – 300 Jahre St. Petersburg als Ausdruck einer Brueckenfunktion zwischen Russland und Westeuropa

Im Jahr 2003 wird eine der schoensten Staedte der Welt Sankt Petersburg – Petrograd –Leningrad, die erst kuerzlich ihren urspruenglichen Namen – Sankt Petersburg - zurueckerhalten hat, ihren dreihundertsten Geburtstag feiern. Errichtet nach dem Willen des russischen Zaren Peters des Ersten, herrschte sie zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts ueber das Russische Reich. Diese Stadt spielte und spielt eine besondere Rolle in Russland und in Europa. Im 1999 wurde in ganz Russland und in der Welt der zweihundertste Geburtstag des grossen Dichters Alexander Puschkin begangen. Die groessten Feierlichkeiten gab es in den beiden Hauptstaedten und vor allem in Petersburg, wo ich Augenzeuge dieser Feierlichkeiten war. Nach den Worten Puschkins “stiess” Zar Peter mit der Gruendung Petersburgs “ein Fenster nach Europa auf”. Besser als der Dichter kann man die gefahrenreiche Stadtgruendung an den Ufern der Neva nicht bezeichnen. Puschkin bringt das in den ersten Strophen seines Poems “Der eherne Reiter” zum Ausdruck.

 

“Stolz dachte er:

Von hier aus drohen wir dem Schweden.

Hier werde eine Stadt am Meer,

Zu Schutz und Trutz vor Feind und Fehden.

Hier hatte die Natur im Sinn

Ein Fenster nach Europa hin,

Ich brech’ es in des Reiches Feste;

Froh werden alle Flaggen wehn

Auf diesen Fluten, nie gesehn,

Uns bringend fremdlaendische Gaeste.”

Allmaehlich verwandelte sich dieses Fenster in eine Tuer, in ein weites Tor, in eine Bruecke, ueber die in beiden Richtungen der Strom gegenseitigen Kennenlernens und gegenseitiger Einfluesse zwischen Russland und den anderen Laendern Europas verlief. Gleichzeitig vollzog sich eine gegenseitige Bereicherung der verschiedenen Segmente der europaeischen Zivilisation, und ohne Zweifel wurde Russland zu einem integralen Bestandteil Europas, als ohne Russland keine einzige der allgemeinen europaeischen Fragen geloest wurde.

Es gibt in Russland keine andere Stadt, die wie Petersburg nicht nur mit einer solchen unerbittlichen Direktheit den Kern des nationalen Charakters ausdruecken konnte, sondern sogar das Wesen der russischen Geschichte. Es geht nicht nur darum, dass Peter der Erste diese Stadt gruendete und damit fuer Russland das Fenster nach Europa aufstiess. Wir sprechen ueber den nationalen Charakter in geistiger und ideeller Hinsicht. Welche andere Stadt koennte, aehnlich wie Sankt Petersburg, in einem Antlitz die Sehnsucht nach unerreichbaren Zielen, Geduld und teuflische Hartnaeckigkeit in sich vereinen …

Petersburg wurde der Mittelpunkt der baltischen und weltweiten Verbindungen. Es wurde die Verkoerperung der imperialen Macht Russlands. Laenger als 200 Jahre, bis 1918, als die Regierung der Bolschewiki gezwungen wurde, die Hauptstadt des von ihnen begruendeten Staates der Sowjets nach Moskau zu verlegen und damit die Hauptstadt des Russischen Reiches, sein prachtvolles Schaufenster, aufzugeben.

Der Beitrag Sankt Petersburgs zur russischen Kultur und zur Kultur der Welt insgesamt – von der praktischen ueber die wissenschaftliche bis zur eigenen Kultur der Architektur, der Literatur, des Theaters usw. ist gewaltig und unerschoepflich. Im zwanzigsten Jahrhundert entwickelte sich eine besondere und einzigartige Geschichte.

Ein deutliches Merkmal fuer die Besonderheit dieser Stadt waren diejenigen aus den Reihen der Intellektuellen und sogar aus den Reihen der in der Stadt herrschenden Schicht, die der Moskauer bolschewistischen Fuehrung gegenueber oppositionell eingestellt waren (nicht nur einmal unternahm man Versuche, diese Opposition auszurotten und alle diese Menschen als “Volksfeinde” in die Verliese des Gulag zu werfen und sie physisch zu vernichten); aber ebenso kennt die ganze Welt die Epopoee von der Blockade Leningrads. Gerade am achten September wurde an den Beginn der Blockade, die neunhundert Tage dauerte, erinnert. Sechshunderttausend Menschen sind damals in Leningrad an Hunger und Krankheiten gestorben.

Als die Ausrichter unserer Konferenz mich baten, zum Thema „Das Fenster zum Westen – 300 Jahre St. Petersburgs“ als Ausdruck einer Brueckenfunktion zwischen Russland und Westeuropa zu sprechen, kam mir die Idee, dass es vielleicht sinnvoller waere, ein solches Referat einem Petersburger zu uebertragen. Dennoch besteht eine Logik auch darin, wenn ein Moskauer diese Aufgabe uebernimmt. Zumindest haette er weniger Hindernisse zu ueberwinden beim Bemuehen, so objektiv wie moeglich die historische Rolle und die gegenwaertige Lage St. Petersburgs darzustellen auf dem Weg zwischen dem Westen und Russland. Aber tatsaechlich ist der Unterschied zwischen einem Moskauer und einem Petersburger nicht so gross. Jeder, der am intellektuellen Leben der Moskauer oder Petersburger teilnimmt, fuehlt sich als Buerger dieser seit langem in geistiger Hinsicht miteinander verschmolzenen Megapolis Moskau – Petersburg.

Dank der sich rasch entwickelnden Verstaedterung kann man die Bevoelkerung dieser Megapolis zahlenmässig mit der Einwohnerzahl eines mittelgrossen europaeischen Landes vergleichen. Sie betraegt mehr als 22 Millionen. Laut amtlicher Statistik wohnen in Moskau jetzt 10 Millionen Menschen (aber in Wirklichkeit ist die Bevoelkerungszahl mit Beruecksichtigung der nicht registrierten Menschen aus allen Ecken der ehemaligen Sowjetunion mit viel mehr anzunehmen). Taeglich reisen 2 Millionen Transitreisende durch Moskau. Im Moskauer Gebiet leben 6 Millionen Menschen. In St. Petersburg leben 6 Millionen, im Leningrader Gebiet sind es 1,7 Millionen.

Und wenn Petersburg vornehmlich Ausgangspunkt fuer die Wege nach dem Westen ist, so liegt Moskau an dem eurasischen Kreuzungspunkt der Wege von Westen nach Osten und von Sueden nach Norden. Es genuegt ein Blick auf die Landkarte, um sich von der Richtigkeit der Behauptung derjenigen zu ueberzeugen, die Europa geographisch nur als kleine Halbinsel Eurasiens betrachteten. Tatsaechlich ist die Rolle dieser Halbinsel bedeutend fuer das Schicksal Russlands; und Russland erblickte diesen Teil der Welt wie in einem Spiegel, wobei es sich mit dieser Halbinsel verglich und sich immer in seiner Seele als ein dazugehoerendes Teil betrachtete. Ebenso ist die Rolle St. Petersburgs als Bruecke zwischen dem europaeischen Westen und dem eurasischen Osten bedeutend.

Um die Einleitung zum Thema nicht auszudehnen, moechte ich bemerken, dass in diesem relativ kurzen Vortrag notwendigerweise nur sehr knapp solche Aspekte der politischen, oekonomischen und sozialen Geschichte behandelt werden, ebenso wie die Geschichte der Kultur in ihren verschiedenen Aspekten, um dann die gegenwaertige Lage Petersburgs zu umreissen.

Im Bewusstsein, dass man in einem kurzen Vortrag nicht alles erfassen kann, bemuehe ich mich, mich auf eine vereinfachte Strukturierung zu beschraenken, wobei ich mir der Kuenstlichkeit dieses Verfahrens bewusst bin. Die Betrachtung der Geschichte dieser Stadt moechte ich in vier Abschnitte unterteilen: Vorgeschichte, Geschichte des achtzehnten, neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Natuerlich werden zum Schluss die Ergebnisse zusammengefasst werden und aufgezeigt, was Sankt Petersburg eigentlich als ein Phaenomen der russischen und der Weltgeschichte sowie der europaeischen Geschichte und Kultur darstellt. Ferner soll gezeigt werden, wie weit die Stadt unter den herrschenden Verhaeltnissen die ihr bislang zukommende urspruengliche Funktion noch uebernehmen kann; in welchem Masse das moeglich ist und welche Perspektiven für das einundzwanzigste Jahrhundert denkbar sind.

Vorgeschichte

Petersburg wurde an der Stelle erbaut, wo sich einst eine Ansiedlung befand, die zu Novgorod gehoerte. Novgorod war die reichste Stadt Russlands, als das Land zersplittert war (wenn es im elften Jahrhundert in Russland 100 Staedte gab, so waren es Mitte des dreizehnten Jahrhunderts etwa 270). Es fuehrte einen ausgedehnten Binnen- und Aussenhandel mit der Insel Gotland in der Ostsee, mit Schweden und Luebeck, der wichtigsten Hansestadt in Deutschland. Die Kaufleute aus diesen Orten hatten ihre prachtvollen Gebaeude und Kirchen in Novgorod. Aus den westlichen Laendern wurden folgende Waren eingefuehrt: Tuche, Kupfer, Salz, Bernstein, Luxuswaren. Aus dem Osten kamen Gebrauchsgegenstaende, Nahrungsmittel, Wertgegenstaende. Die Novgoroder Kaufleute lieferten unter anderem Felle, Wachs, Walrosszaehne.

Getreide war in Novgorod nicht ausreichend vorhanden. Es wurde aus den Fuerstentuemern Wladimir – Susdal eingefuehrt. Der Einfluss der Fuersten aus diesen beiden Gebieten auf Novgorod wurde immer staerker, weil Novgorod von deren Getreideversorgung voellig abhaengig war.

Die Schwaechung Russlands waehrend der Zeit der Herrschaft der Mongolen und Tataren, die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts begann und zwei Jahrhunderte lang andauerte, hemmte die Entwicklung des Landes. Der erstarkende Moskauer Adel, die Nachfolge des Reiches von Wladimir – Susdal, unterwarf das freiheitsliebende Novgorod. Es eignete sich die Gebiete an, ueber die es im Nordwesten der grossen russischen Ebene bis nach Archangelsk herrschte.

Der von Ivan dem Schrecklichen begonnene Krieg zur Eroberung des Baltikums, der Livlaendische Krieg in den Jahren 1558 bis 1583, endete mit der Niederlage Russlands. Es trat alle eroberten Gebiete an Polen und Schweden ab. Ivan der Vierte beschuldigte seine Bojaren des Verrats und herrschte durch Terror gegen sein eigenes Volk, mit Hilfe der sogenannten Opritschnina. Als Ergebnis seiner Herrschaft geriet das Land in eine wirtschaftliche Krise. In den zu Novgorod gehoerenden Laendereien blieben zum Beispiel 90 % des Landes unbestellt. Die Opritschnina untergrub die Grundlagen der staatlichen Ordnung des Moskauer Reiches und bereitete die Erschuetterung Russlands waehrend der Zeit der Wirren (smuta) 1598 – 1612 vor. In der Zeit davor wurde als Ergebnis des Krieges mit Schweden 1590 – 1593 im Jahre 1594 der Tjawsinskij-Frieden geschlossen, der “Ewige Friede”, bei dem Jam, Korely, Ivangorod, Koporje, Nienschanz, Oreschek an Russland abgetreten wurden.

Anfang des siebzehnten Jahrhunderts ergriffen in Moskau fuer eine kurze Zeit die selbsternannten Ursupatoren, der Falsche Dimitrij der Erste und der Falsche Dimitrij der Zweite, die Macht, die von Polen unterstuetzt wurden. Schweden, der sogenannte Verbuendete Russlands im Krieg gegen Polen eroberte Novgorod. Als Folge der staendigen Kriegsfuehrung stuerzte das Land ins Chaos. Die misslungene Inthronisierung des polnischen Prinzen Wladislav als russischer Zar, die zur Errichtung einer konstitutionellen Monarchie in Russland haette fuehren koennen, endete 1612 mit der Vertreibung der Polen aus Moskau. Im Lande wurde wieder die Selbstherrschaft eingefuehrt und die Macht ging ueber auf eine neue Dynastie, die Romanovs, die von 1613 bis 1917 in Russland herrschten.

Erst 1617 gelang es, den Stolbowski-Frieden mit Schweden zu schliessen und Gebiete am Finnischen Meeresbusen wurden abgetreten. 1618 wurde das Abkommen von Deulin mit der Recz Pospolita geschlossen, die das Gebiet um Smolensk und Tschernigow behielt.

Der Niedergang Russlands – hervorgerufen durch die Smuta – wurde erst Mitte des siebzehnten Jahrhunderts ueberwunden. Die Versammlungen der Landstaende (zemskie sobory) – eine Art Parlament – wurden immer seltener einberufen. Sie befassten sich nur mit den Fragen, die der Zar angab. Die letzte dieser Versammlungen fand 1653 statt. Sie billigte die Entscheidung der Regierung, die Ukraine mit Russland zu vereinen.

Im siebzehnten Jahrhundert regierte der Zar mit Hilfe der Duma der Bojaren. Aber mit dem Erstarken der Selbstherrschaft verlor die Duma ihre Bedeutung. Die entscheidende Besonderheit des vorpetrinischen Russlands war das Buendnis zwischen Kirche und Staat. Die rechtglaeubige Kirche spielte zweimal eine entscheidende Rolle bei der Bewahrung der russischen Staatlichkeit waehrend der Zeit des Kampfes gegen das Mongolenjoch und waehrend der Zeit der Wirren.

Nach byzantinischer Tradition war der Zar eine geistliche Persoenlichkeit, er war der hoechste geistliche Herrscher der Kirche und des Staates. Obwohl der Patriarch die zweite Stelle im Staat einnahm, spielte die Kirche in diesem Bündnis nur eine untergeordnete Rolle und alle Oberhaeupter der russischen Kirche wurden von den Versammlungen nach den Anweisungen des Zaren gewaehlt.

Insgesamt war Russland im siebzehnten Jahrhundert in gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht und in seiner Gesamtentwicklung weit hinter den meisten europaeischen Laendern zurueck. Diese Rueckstaendigkeit bestand auch im Militaerwesen. Das Land besass keine kampfkraeftige regulaere Armee. Die militaerische Struktur bestand aus drei Teilen: Landadel oder Dienstadel, Kavallerie, die nur in Kriegszeiten aufgerufen wurde, Einheiten der Schuetzen und fremdlaendische oder Regimenter neuer Art. Letztere wurden in Friedenszeiten ebenfalls demobilisiert.

Als Ergebnis der Innenpolitik der Selbstherrscher wurden die Bauern entsprechend dem Beschluss des Sobors von 1649 rechtlich an ihre Scholle gebunden und spaeter durch Gesetz Ende des siebzehnten/Anfang des achtzehnten Jahrhunderts an die Person des Grundherrn gebunden. Die Abschaffung der Leibeigenschaft erfolgte erst 1861 nach der Niederlage Russlands im Krimkrieg 1852 – 1856. Und dennoch: der wirtschaftliche Fortschrift bahnte sich – wenn auch langsam – seinen Weg. Es entwickelte sich ein Binnenmarkt, es gab die ersten Ansaetze einer industriellen Produktion in Form von eisenerzeugenden und anderen Fabriken. Es entwickelten sich regionale Besonderheiten. Auftraggeber fuer diese Betriebe war haeufig der Staat. Der sich anbahnende wirtschaftliche Aufschwung bedurfte der aussenpolitischen Unterstuetzung.

Aussenpolitisch hatte Russland im siebzehnten Jahrhundert zwei draengende Fragen geloest: die von Polen eroberten Gebiete um Smolensk und Tschernigow waren zurueckgewonnen, die Vereinigung der Ukraine links des Dneprs sowie die Anbindung Sibiriens an Russland erreicht. Einen der Kriege gegen Polen verlor Russland (Smolensker Krieg 1632 – 1634), der andere Krieg von 1654 bis 1667, der durch die Vereinigung der Ukraine ausgeloest worden war, endete mit einem russischen Erfolg und führte zum Bündnis mit Schweden und zum Andrussovskij Waffenstillstand 1667, und schliesslich im Jahr 1686 zum “Ewigen Frieden” mit dem geschwaechten Polen. Nach dem russisch-schwedischen Krieg 1656 – 1658 schloss Russland 1661 mit Schweden den Kardisskij Frieden. Russland wurde zum ersten Mal seit den Zeiten des tatarisch-mongolischen Jochs Teilhaber einer europaeischen Koalition, als es dem gegen das tuerkische Reich gerichteten Buendnis mit Oesterreich, Polen und Venedig beitrat. Der jahrhunderte alte Kampf Russlands gegen die Chanate auf der Krim, den Vasallen des Osmanischen Reiches, fuehrte zum ersten offenen Krieg gegen das tuerkische Reich in den Jahren 1676 – 1681. Entsprechend dem 1681 geschlossenen Waffenstillstand von Bachtschissaraj erhielten die Gebiete zwischen Dnepr und Bug neutralen Status; das tuerkische Reich und die Krim anerkannten die Vereinigung der linksufrigen Ukraine und Kiews mit Russland.

Das Machtvakuum nach dem Tod des Zaren Alexej Michajlowitsch 1675 und seines aeltesten Sohnes Fedor Alexejewitsch 1682 fuehrte zu Machtkaempfen innerhalb der Hofcliquen, zwischen den Bojaren Miloslawskij und Naryschkin, Verwandten der ersten und zweiten Frau Alexej Michajlowitschs. 1689 ging die Macht ueber auf den Sohn der zweiten Frau des verstorbenen Zaren, auf Peter den Ersten. Er setzte den Krieg gegen die Tuerken fort, der 1686 begonnen worden war. Der erste Angriff auf Asow misslang, die Russen hatten keine Flotte, waehrend die Tuerken ihre Vorraete auf dem Seeweg herbeischafften. In den Jahren von 1695 bis 1696 liess Peter bei Woronesch eine Kriegsflotte bauen. Im Mai 1669 fuhr diese Flotte, die aus 23 Galeeren und 4 Brandern bestand, unter dem Kommando von Admiral Lefort gegen Asow; die Festung ergab sich. Peter entwarf Plaene, um den Krieg gegen die Tuerkei auszuweiten. Diese Plaene wurden das offizielle Ziel der “grossen Gesandtschaft”, die sich ins Ausland begab, unter der Leitung des inkognito reisenden Peters des Ersten.

Der Plan grosser Veraenderungen begann in Peter zu reifen waehrend seiner ersten Reise durch Europa. Vor allem waehrend der Reisen mit der “grossen Gesandtschaft” 1697 bis 1698 lernte er Armee- und Flottenwesen, Wissenschaften und Bildungswesen in Holland, England, Oesterreich und Brandenburg kennen. Am 13. Mai 1697 ging das Schiff, auf dem sich Peter der Erste befand, im Hafen von Pillau vor Anker, unweit von Koenigsberg. Zu diesem Zeitpunkt hatte Peter schon die Ungastlichkeit Rigas und die Provinzialitaet Mitaus kennengelernt. Hier in Pillau wurde Peter zum ersten Mal mit grossen Ehren am Hof eines europaeischen Monarchen empfangen. Der brandenburgische Kurfuerst Friedrich der Dritte, der drei Jahre zuvor als Friedrich der Erste zum preussischen Koenig gekroent worden war, wollte sich der Unterstuetzung des maechtigen Nachbarn versichern, falls es zu einem Konflikt mit Polen oder Schweden kommen sollte. “Der Zar ist von hohem Wuchs, gut gestaltet, er sieht gut aus, obwohl seine Manieren nicht die hoeflichsten sind … er ist ein grosser Pferdeliebhaber”, vermerkte der hannoversche Gesandte in Berlin, Heusch. Die Bekanntschaft mit dem Leben in Westeuropa ueberzeugte Peter von der Unaufschiebbarkeit der Reformen in Russland zur Ueberwindung seiner gefaehrlichen Rueckständigkeit im Gegensatz zu den fuehrenden europaeischen Reichen. Im weiteren Verlauf seiner Reise durch Europa entschied sich Peter dafuer, den Krieg gegen die Tuerken nicht fortzusetzen, sondern gegen die Schweden zu kaempfen, die Russland den Zugang zur Ostsee versperrten.

Zu diesem Zweck schloss Russland 1699 den “Nordbund” mit Sachsen und Daenemark gegen Schweden. Der im Jahr 1700 begonnene Nordische Krieg erwies sich anfaenglich als Misserfolg fuer Russland. Karl der Zwoelfte fuegte den russischen Truppen eine Niederlage zu und nahm Narwa ein. Diese Niederlage beschleunigte die Militaerreformen in Russland. Es wurden Regimenter gebildet nach den besten europaeischen Vorbildern, ausgeruestet mit Artillerie, und schon 1701 wurde den Schweden eine Niederlage in Livland beigebracht. Im Oktober 1702 wurde die Festung Noteburg (Oreschek) eingenommen, die in Schluesselburg umbenannt wurde, und nach der Einnahme der Festung Nienschanz war die gesamte Neva in russischer Hand. Am sechzehnten (achtundzwanzigsten) Mai 1703 begann auf einer kleinen Insel an der Muendung der Neva auf Befehl Peters des Ersten der Bau der Festung Petropavlovsk. Das war der Ursprung der zukuenftigen Hauptstadt (seit 1712) des Russischen Reiches – St. Petersburgs. Zum Schutz gegen Angriffe von der See wurde die Festung Kronstadt erbaut. Durch die Kanaele, die die Flüsse miteinander verbanden, die auf der einen Seite in die Wolga flossen, auf der anderen Seite in den Ladogasee, erhielt Russland ein ausgedehntes Netz an Wasserwegen, so dass Waren auf dem Wasserweg in die Stadt gebracht werden konnten.

1704 nahmen die russischen Truppen Tartu und Narva ein, wo der Vertrag mit Polen geschlossen wurde. Nach der Bedrohung durch russische, polnische und saechsische Truppen entschloss sich Karl der Zwölfte, gemeinsam mit dem ukrainischen Hetman Mazepa einen Feldzug gegen Moskau zu unternehmen. Aber bereits bei dem Dorf Lesnaja im Jahre 1708, und dann in der Schlacht von Poltawa am achten Juli 1709, wurden die bis dahin als unbesiegbar angesehenen schwedischen Truppen von Peter dem Ersten geschlagen, der den Schweden fuer den Unterricht im Militaerwesen dankte.

Der russische Feldzug gegen die Tuerken 1711 brachte keinen Erfolg, Russland war gezwungen, Zaporosche, Asov und Taganrog aufzugeben und seine Asover Flotte zu zerstoeren. Zur gleichen Zeit brachte der Krieg gegen Schweden immer neue Siege zu Wasser und zu Lande. Am zehnten September 1721 wurde endlich in Niestad (Finnland) ein Friedensvertrag zwischen Russland und Schweden geschlossen. Russland stimmte zu, Schweden das eroberte Finnland zurueckzugeben, aber es behielt Ingermanland (Ischorskaja Zemlja), einen Teil Kareliens mit Vyborg, ganz Estland mit den Inseln Esel, Dago und Moon sowie Livland mit Riga. Dieser Vertrag festigte Russlands Anspruch auf Zugang zur Ostsee. Waehrend der Feierlichkeiten zu diesem Anlass im November des gleichen Jahres in Petersburg erhielt Peter den Titel “Vater des Vaterlandes, Peter der Grosse, Imperator von ganz Russland”. Dieser Ehrentitel zeigte, dass sich Russland als Imperium verstand. Russland hatte sein groesstes aussenpolitisches Problem, das es zweihundert Jahre lang nicht hatte loesen koennen, aus der Welt geschafft. Der Vertrag oeffnete fuer Russland das “Fenster zum Westen”, und es hatte selbst normale Bedingungen geschaffen fuer wirtschaftliche und kulturelle Verbindungen zu den entwickelten Laendern Europas. Petersburg, Riga, Reval und Vyborg wurden die wichtigsten Aussenhandelszentren des Landes. Wenn frueher die Teilnahme der Staaten an internationalen Beziehungen begrenzt wurde durch die Laender Ost- und Suedosteuropas, so nahm jetzt Russland seinen Platz im Kreis der europaeischen Grossmaechte ein.

Viele Historiker kommen zu dem Schluss, dass der russische Staat am Ende des siebzehnten Jahrhunderts alle Moeglichkeiten der historischen Entwicklung auf dem alten Weg ausgeschoepft hatte, wenn man die bekannte Abgeschlossenheit von Westeuropa in betracht zieht, obwohl diese Abgeschlossenheit natuerlich niemals vollstaendig war. Die Anzeichen schwerer Krisen – der Krise in geistiger Hinsicht (der Kampf gegen die Raskolniki) und der wirtschaftlich-sozialen Krise – erforderten Reformen: Staerkung des Staates, Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung, kulturelle Entwicklung im europaeischen Sinne. Auch die militaerischen Kraefte mussten weiter in dem Masse gefoerdert werden, dass der Platz im System der europaeischen Maechte gehalten werden konnte. Hier nahm die reformerische Taetigkeit Peters des Ersten ihren Ausgang, des Zaren, den Russland gerade zu diesem Zeitpunkt brauchte. Das Anwachsen der Handels- und kulturellen Beziehungen zum Westen, die industrielle Entwicklung in Zentralrussland, im Ural und in anderen Gebieten wurde in vieler Hinsicht vom Charakter der petrinischen Umgestaltungen bestimmt. Es wurden rund 3000 neue Gesetze erlassen. Peter der Erste fuehrte die bedeutendsten Reformen durch: administrative, militaerische, Steuerreformen, Kirchenreformen sowie Reformen auf dem Gebiet der Kultur und des taeglichen Lebens. Die so umfassend durchgefuehrten Veraenderungen fuehrten Russland auf den Weg einer beschleunigten oekonomischen, politischen und kulturellen Entwicklung. Aber die Schwäche aller russischen Reformen bestand darin, dass sie einseitig ausgerichtet waren auf die Emanzipation der oberen Schichten, und dies auf dem Ruecken der Armen. Reformen seit den Zeiten Peters des Grossen bedeuteten “Verwestlichung” und beinhalteten gleichzeitig das Paradoxon der “Veroestlichung” der unteren Schichten, die immer mehr zu rechtlosen Untertanen einer oestlichen Despotie wurden.

Das achtzehnte Jahrhundert begann fuer Russland mit der Einfuehrung des neuen Kalenders nach europaeischem Vorbild; das neue Jahr begann nicht, wie frueher, am ersten September, sondern mit entsprechenden Feierlichkeiten, am ersten Januar. Es war das Jahrhundert der stuermischen Entwicklung Petersburgs, das sich zu einer der fuehrenden Staedte in Europa entwickelt hatte, und das tonangebend war in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. Als Voltaire eine Bilanz des Jahrhunderts zog, in der er Europa als “Republik der Weisen” bezeichnete, schrieb er ueber Petersburg: “Als zu Beginn unseres Jahrhunderts Peter den ersten Stein fuer den Bau Sankt Petersburgs legte, oder, um es richtiger zu sagen, den ersten Stein fuer sein Imperium, konnte sich niemand die zukuenftigen Erfolge vorstellen.” Gerade im achtzehnten Jahrhundert begann mit der Gruendung Sankt Petersburg auch die Grundlegung fuer das moderne Russland. In dieser Stadt, mehr als in jeder anderen russischen Stadt, kreuzten sich die Wege europaeischer Kultur und russischer nationaler Traditionen. Aus dieser Verbindung entstanden haeufig Meisterwerke. Die besten Architekten, die aus vielen europaeischen Laendern, oft aus Italien, dem Ruf nach St. Petersburg folgten, erhielten hier die Moeglichkeit, ihre Plaene zu verwirklichen. Peter selbst nannte manchmal die schoene, nach seinem Willen an den Ufern der Neva entstandene Stadt, “Paradies”, der russische Schriftsteller Turgenev nannte sie schon im neunzehnten Jahrhundert das “Noerdliche Palmira”. Es wurden Gelehrte eingeladen, um die russischen Wissenschaften voranzubringen; unter Peter dem Ersten wurde 1724 in Petersburg die Akademie der Wissenschaften gegruendet, und russische Gelehrte leisteten in Zukunft einen nicht geringen Beitrag zur internationalen Wissenschaft. Der reiche Petersburger Hof lud aus ganz Europa bekannte Groessen aus Kultur und Wissenschaft ein.

Aber es kamen auch die sogenannten “einfachen Leute” nach Petersburg. Im achtzehnten und vor allem im neunzehnten Jahrhundert war in Russland bereits die Anwesenheit von Auslaendern deutlich spuerbar, von denen viele Deutsche waren. Nach dem Bericht des Deutschen Wilhelm Stricker lebten in Petersburg in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts mehr als 30.000 Deutsche. “Diejenigen, die etwas reicher sind und ein eigenes Geschaeft haben”, schrieb er, “leben in guten Wohnungen, die Handwerker und die Arbeiter leben in ebenerdigen Wohnungen in den Gassen zwischen dem Vosnesenskij Prospekt und der Gorochovaja Strasse. Auf der Vasilevskij Insel sind ganze Stadtteile von Deutschen bewohnt und sogar die Strassenschilder sind dort in deutscher Sprache. Dort versteht man Deutsch, es wird nur darum gebeten, langsamer zu sprechen. Es ist nicht so wie in den Wohngegenden der Adligen, wo die Deutschen nicht (Deutsch) verstehen moechten.”

Die politische Geschichte Russlands und seiner Hauptstadt Petersburg im achtzehnten Jahrhundert teilt sich auf in Perioden der Zeit weniger bekannter Herrscher und die der beruehmten Herrscher, wie zum Beispiel die der Tochter Peters des Ersten, Elisabeth der Ersten oder Ekaterina der Zweiten, die Ekaterina die Grosse genannt wurde. Besonders die Deutsche Ekaterina, eine Prinzessin aus dem Hause Zerbst, ist eine der beruehmtesten Zarinnen, unter deren Herrschaft Russland weitere Siege errang und die Erweiterung des Imperiums vorangetrieben wurde. Um die Kontinuitaet zu Peter dem Ersten zu unterstreichen, liess sie am Ufer der Neva das beruehmte Denkmal fuer Peter errichten, den “Ehernen Reiter”, der von Falkonet geschaffen wurde. Auf dem granitnen maechtigen Sockel stehen die Worte “Pietro Primo Catharina Secunda” (Peter dem Ersten von Katharina der Zweiten). Hierher ruehrt auch eine andere Bezeichnung Petersburgs – die Stadt des “Ehernen Reiters”.

Die Geschichte dieses Jahrhunderts endete mit der Herrschaft des Sohnes Ekaterinas der Zweiten, Pavel des Ersten, Ritter des Malteser Ordens, der in Russland deutsche, preussische Ordnung einfuehren wollte, aber mit diesem Vorhaben scheiterte. Alle Herrscher Russlands nach Peter dem Ersten erhielten eine europaeische Bildung, das heisst, sie waren Traeger der europaeischen Kultur. Eine solche Bildung erhielten auch die Angehoerigen der privilegierten Schichten, die von Kindheit an mit europaeischer Kultur vertraut gemacht wurden.

Im achtzehnten Jahrhundert entstanden in Petersburg zahlreiche Architekturdenkmaeler, an denen sich bis auf den heutigen Tag Petersburger und Gaeste von ausserhalb erfreuen. Diese Denkmaeler befinden sich nicht nur in der Stadt selbst, sondern auch in der Umgebung; die kaiserlichen Sommerresidenzen, der von Peter dem Ersten am Ufer des Finnischen Meerbusens erbaute Peterhof, das Zarskoe Selo Ekaterinas der Zweiten sowie Pavlovsk Pauls des Ersten. Die Eremitage mit ihren 13 Museen wurde erbaut. Die Eremitage zählt zu einem der besten Museen der Welt und ich bin stolz darauf, dass zu ihren Exponaten seit den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ein griechischer Kouros gehört, die Statue eines Juenglings aus dem fuenften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, die ich waehrend der Ausgrabungen der griechischen Stadt Olvia am Schwarzen Meer gefunden habe. Diese archaeologische Expedition wurden vom Petersburger Institut fuer Archaeologie und der Eremitage durchgefuehrt.

Im neunzehnten Jahrhundert wurde der Bau Petersburgs und seiner architektonischen Meisterwerke erfolgreich fortgefuehrt. Das Staatsgebiet und der Einfluss des russischen Imperiums in Europa und in der Welt vergroessterten sich; allein in der ersten Haelfte des Jahrhunderts kamen Finnland, Bessarabien, Polen, der Kaukasus und Kasachstan hinzu. Als Ergebnis des Sieges ueber Napoleon im Jahre 1812 wurde Zar Alexander der Erste, der von 1801 bis 1825 regierte, einer der europaeischen Monarchen, ohne die keine bedeutenden Fragen des internationalen Lebens geloest wurden. Der Wiener Kongress schuf 1815 in Europa ein System der internationalen Uebereinstimmung, ihm aehnliche Systeme, die entsprechend ihren Aufgaben versuchen, den Frieden zwischen den Nationen aufrecht zu erhalten, waren und sind der Voelkerbund zwischen den beiden Weltkriegen und die heutige UNO. Europa erhielt die Moeglichkeit einer friedlichen, konfliktfreien Entwicklung, die allerdings nicht lange anhielt. Die Revolutionen der Jahre 1848 und 1849, an deren Niederschlagung auf Bitten der europaeischen Regierungen auch Russland teilnahm, aenderten die Situation. Am Ende der Herrschaft Nikolajs des Ersten (1825 – 1856) ging der Einfluss Russlands etwas zurueck, wozu auch der Krimkrieg beitrug. Nach den Worten des Kanzlers Gortschakov brauchte Russland neue Reformen und sollte sich auf diese konzentrieren. Unter der Regierung Alexanders des Zweiten (1856 – 1881) wurden eine Reihe von Reformen durchgefuehrt, im taeglichen Leben in Russland waren geringe Anzeichen einer Demokratisierung spuerbar. Revolutionaere Unruhen begannen, die Revolutionaere versuchten, die historische Entwicklung voranzutreiben, einige auch durch Terror. Im Jahre 1881 wurde der Zar, der Bauernbefreier und der Befuerworter von Reformen, von einem Terroristen ermordet; an der Stelle des toedlichen Anschlags im Zentrum von Petersburg wurde eine Kirche errichtet, deren Konturen denen der beruehmten Kathedrale Wasilij Blaschennyj auf dem Roten Platz in Moskau nachgebildet sind. Alexander der Dritte, der von 1881 bis 1894 herrschte, betonte waehrend seiner Regierungszeit im Geiste des damals in ganz Europa herrschenden Nationalgefühls slawophile Traditionen und Neigungen.

1894 bestieg der letzte Romanow, Nikolaj der Zweite, den Thron. Er versuchte, die Arbeit seines Vaters fortzusetzen und das System der Selbstherrschaft so lange wie moeglich aufrechtzuerhalten, obwohl die Zeit und die geschichtliche Entwicklung bereits andere Regierungsformen erforderten. Als Ergebnis der Februarrevolution 1917 musste Nikolaj der Zweite zuruecktreten und im Juli 1918 wurde er zusammen mit seiner Familie von den Bolschewiki, die im Oktober 1917 die Macht ergriffen hatten, erschossen. Vor kurzem, im August 2000, wurden er und seine Familie von der russisch-orthodoxen Kirche als Maertyrer heiliggesprochen.

Wenn man fuer das achtzehnte Jahrhundert sagen kann, dass der Strom der europaeischen Kultur, der nach Petersburg floss, hauptsaechlich aus dem Westen kam, so kann man sagen, dass das durch die europssische Kultur bereicherte Russland im neunzehnte Jahrhundert das aufgeklaerte Europa bereichern konnte. Die Verbindung zwischen russischer und europaeischer Kultur erbrachte herausragende Ergebnisse. Die russische klassische Literatur dieses Jahrhunderts erwies sich als wuerdig nicht nur der nationalen russischen Kultur, sondern auch der gesamten Menschheit und vor allem Europas. Puschkin, Lermontov, Gogol, Dostojewskij, Tolstoj – das sind einige Namen aus der langen Reihe beruehmter russischer Dichter und Schriftsteller des damaligen Russlands. Der Einfluss der russischen Literatur ist noch heute in der Literatur europaeischer Laender spuerbar. Nicht umsonst spricht man vom Petersburg Puschkins und Dostojewskijs, von Bildern, die der ganzen Welt bekannt sind. Einen bedeutenden Platz nimmt auch die russische Wissenschaft ein, wenn wir uns nur an einen herausragenden Gelehrten erinnern, den Petersburger Mendeleev, dessen Tafel der chemischen Elemente bis heute jeder Schueler kennt (oder kennen sollte). Jeder der Herrschenden im neunzehnten Jahrhundert hinterliess seine Spur im architektonischen Bild Petersburgs.

Im zwanzigsten Jahrhundert ist Petersburg die Hauptstadt des Russischen Reiches und die Residenz des russischen Zaren, dort sind alle staatlichen Einrichtungen konzentriert, so vermerkt ein Reisefuehrer, der zum 200jaehrigen Bestehen Petersburgs herausgegeben wurde.

Im Jahr 1900 betrug die Einwohnerzahl von Petersburg 1 Million 250 Tausend, mit den Vororten 1 Million 500 Tausend, Petersburg war die fuenftgroesste Stadt Europas nach London mit 4,5 Millionen Einwohnern, Paris (2,7 Millionen), Berlin (2 Millionen) und Wien (1,75 Millionen). Von je tausend Einwohnern von Sankt Petersburg mit russischer Muttersprache bezeichneten sich 874 als Russen, 35 als Deutsche, 31 als Polen, 13 als Finnen und 9 als Juden. Nur ein Drittel aller Einwohner hatte seine Wurzeln in Petersburg. 2 Drittel waren Zugereiste. Diese Einwohnerstruktur blieb im Verlauf des Jahrhunderts erhalten, und nach der Blockade in den Jahren 1941 bis 1944 stieg die Zahl der Zugereisten noch an. Als Ergebnis dieser das Land und die Stadt erschuetternden Ereignisse ging die Bevoelkerungszahl von Sankt Petersburg erheblich zurueck. Die Bedeutung der Stadt fuer das Land und die Welt ueberlebte Hoehen und Tiefen. Am Ende des Jahrhunderts hatte sie nicht mehr die Bedeutung, die sie an dessen Anfang hatte.

Am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts verzeichnete man in Russland im Leben der russischen Hauptstadt einen kulturellen Hoehepunkt. Es genuegt, auf das “Silberne Zeitalter” der russischen Poesie, Literatur, Malerei, Architektur zu verweisen, auf die wissenschaftlichen und auf die philosophischen Leistungen. Petersburg gemeinsam mit Moskau blieben weiterhin die bedeutendsten Staedte, an denen sich westliche und russische kulturelle Traditionen kreuzten. Die Niederlage Russlands im russisch-japanischen Krieg 1905, die sich daran anschliessende Revolution der Jahre 1905 bis 1907, zwangen den Zarismus, Zugestaendnisse zu machen trotz seiner bis dahin starken Position der Selbsherrschaft. Unter dem Druck der revolutionaeren Kraefte wurde versucht, das staatliche System zu demokratisieren. Das waren erste Anzeichen fuer den Untergang des moechtigen Imperiums und damit gleichzeitg seiner Hauptstadt Sankt Petersburg.

Insgesamt erwies sich das zwanzigste Jahrhundert mit seiner Geschichte als tragisch fuer Russland und besonders fuer Sankt Petersburg. Am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts begann der Erste Weltkrieg (1914 bis 1918), der das Leben in Europa und in der Welt von Grund auf aenderte. Einige seiner Folgen waren die Machtergreifung der Bolschewiki in Russland, der Faschismus in Italien und der Nationalsozialismus in Deutschland. Nach der Erschuetterung durch die Revolution 1917 und den Ereignissen des Buergerkriegs veroedete Petrograd, wie es seit Anfang des Kriegs 1914 genannt wurde. “Dein Bruder, Petropol, stirbt”, schrieb 1918 Mandelstam in einem seiner Gedichte. Ein herausragender Kenner des Genius loci von Sankt Petersburg, der Historiker Nikolaj Anziferov, der lange Zeit in den Lagern Stalins verbrachte, bemerkte 1922 in seinem Buch “Die Seele Petersburgs”, dass sich Petropol vor seinen Augen in eine Nekropole verwandelt. Diese Empfindung des Verloeschens herrscht so oder anders in der Kultur der Stadt im zwanzigsten Jahrhundert.

Petersburg, das nach dem Tode Lenins in Leningrad umbenannt wurde und erst in den neunziger Jahren seinen urspruenglichen Namen wiedererhielt, wurde die zweite Stadt Russlands und verarmte in der sowjetischen Zeit, das wird an vielen Anzeichen deutlich. Die Mittel, um den frueheren Glanz aufrechtzuerhalten, fehlen. Sie hat jedoch eine vitale Tradition, die Stadt entwickelt weiter ihr industrielles, militaerisches und wissenschaftliches Potential, sie bewahrt ihre Kultur und den Ruf als oppositionelles Zentrum. Ihre Intellektuellen wurden in den zwanziger und dreissiger Jahren verfolgt, nach dem Zweiten Weltkrieg schlossen sich die Verfolgungen durch den mächtigen Gouverneur von Leningrad, Shdanov, an, unter den Repressierten waren Dichter und Schriftsteller wie Anna Achmatowa und Michail Sostschenko. Auch weitere Aktionen durch die Moskauer Fuehrung staerkten nur um so mehr den Widerstandsgeist der Petersburger Intellektuellen. Deshalb fiel die demokratische Bewegung der Perestrojka in Leningrad auf fruchtbaren Boden, sie erhielt breite Unterstuetzung in der Stadt, Buergermeister wurde der Demokrat Sobtschak.

In der letzten Zeit, besonders nachdem der Petersburger Putin an die Macht gekommen ist, gibt es Ueberlegungen eines Umzugs des Parlaments nach Petersburg und sogar dahingegehend, die Hauptstadt nach Petersburg zu verlegen. Anhaenger der Idee eines Umzugs des Parlaments sind der Gouverneur von Sankt Petersburg, Jakovlev, und der Sprecher der Staatsduma, Selesnev, sie erhalten Unterstuetzung nur von dem ehemaligen Deputierten Beresovskij. Es heisst, dass dadurch der Status Petersburg angehoben werden soll und gleichzeitig wuerde die prowestliche Haltung des neuen russischen Praesidenten damit ausgedrueckt. Der Bau eines parlamentarischen Komplexes wuerde etwa 700 Millionen Dollar verschlingen. Der Umzug der Hauptstadt wuerde die Stadt aus ihrem Schlaf erwecken, es wuerde ihr Zentrum vor dem Verfall retten. Aber ein Umzug unter den gegenwaertigen Bedingungen ist nicht realistisch. Wenn in Petersburg Massnahmen ergriffen würden, um Parlament und Residenz des Praesidenten dorthin zu verlegen, so wuerde das zahlreiche Touristen anziehen, deren Zahl bis jetzt nicht hoch ist, wie sie es sein koennte. Aber Petersburg ist eine einzigartige Stadt, die ihr urspruengliches Stadtbild gut erhalten hat, weil es nicht über Jahrhunderte immer wieder veraendert wurde, wie in anderen europaeischen Städten. Wenn man sie in eine fuer eine grosse Zahl von Touristen interessante Stadt umwandeln will, sind riesige Investitionen notwendig. Von 900 Baudenkmaelern benoetigen 200 sofortige Restaurierung, sonst werden sie in kuerze verfallen. Von 18 Millionen Quadratmetern Wohnflaeche stammen 9 Millionen aus vorrevolutionaerer Zeit, 1,5 Millionen sind renovierungsbeduerftig.

Die Vorbereitungen fuer die Feierlichkeiten zum dreihundertsten Jahrestag der Gruendung von Sankt Petersburg gehen weiter. Um die notwendigen Mittel aufzutreiben, will der Gouverneur sich an die Petersburger in der russischen Regierung wenden, von Tschubajs bis Putin. Die Stimmung unter den Petersburgern ist unter den Gegebenheiten der gegenwaertigen Krise pessimistisch, aber die Hoffnung, dass der fruehere Ruhm der Stadt zurueckkehren wird, verlaesst sie nicht. Heute ist die Stadt die Hauptstadt der Nord-Westlichen Region des europaeischen Teils Russlands. Mit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion uebernahmen Petersburg und das Leningrader Gebiet gemeinsam mit dem Kaliningrader Gebiet die Funktion der Vertretung Russlands im Baltikum. Es zeigte sich, dass Sankt Petersburg, an der aeussersten Grenze Russlands zur Europaeischen Union, fuer Russland weiterhin den Westen mit dem Osten verbindet, die europaeische Kultur im weitesten Sinne und die russische Kultur.

 

 

 

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